Schritt für Schritt – Rezension zu “Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry” von Rachel Joyce

By | 25. November 2023

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“»Man würde meinen, dass Gehen doch ganz einfach ist«, sagte sie. »Man braucht ja nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Aber ich staune immer wieder, wie schwierige manches ist, was eigentlich von selbst laufen sollte, von unseren Instinkten gesteuert.«” (S.65)

Zum Inhalt:

Harold Fry ist im Ruhestand. Noch nicht lange. Wohlverdient. Zufrieden in der “Haus-mit-Garten”-Idylle – so könnte man im Vorbeischlendern an der sorgfältig gepflegten Hecke meinen. Die Tage sind gefüllt mit… Alltäglichem. In dieses sorgsam gewachsene Leben mit seinen gepflegten Routinen, ehernen Ritualen und dem etwas schalen Geruch nach Bourgeoisie dringt eine Nachricht. Die Nachricht über den nahen Tod einer Bekannten aus der Vergangenheit Harolds: Queenie Hennessie. 

Harold möchte ihr noch eine Nachricht zukommen lassen und beschließt den an sie gerichteten Brief zum nächsten Briefkasten zu bringen. Persönlich, denn schließlich ist es Queenie. Mit ihr verband er mehr als nur gemeinsame Arbeitszeit in derselben Firma. Und während er in seinen Gedanken nach Erinnerungen kramt, tragen ihn seine Füße bereits am ersten Briefkasten vorbei. Kein Malheur, der nächste ist nicht weit weg. Harold beginnt zu gehen. Ehe er sich’s versah, musste er sich eingestehen: “Er war nicht mehr jemand, der mal schnell zum Briefkasten wollte. Er war unterwegs zu Queenie Hennessie.” (S.69)

Für Harold wird sein Unterfangen zu Queenie Hennessie zu gehen eine Reise von sich weg und zu sich zurück. Ein Bogen gespannt in seine Vergangenheit, dessen sehr reales Ziel im Hier-und-Jetzt verankert war. “Das Laufen befreite die Vergangenheit, der er zwanzig Jahre lang aus dem Weg gegangen war, und jetzt plapperte und tollte sie mit der ihr eigenen wilden Energie in seinem Kopf herum. Er maß die Entfernungen nicht mehr in Kilometern, sondern in Erinnerungen.” (S.119)  Reisen bedeutet aus seiner ureigenen Komfortzone aufzubrechen, sich Neuem zu stellen; um so mehr, je weniger ein ausgeklügelter Plan dahinter stand. “Es machte nichts, dass er seine Route nicht geplant und keine Straßenkarte mitgenommen hatte. Er besaß eine Karte anderer Art, eine Karte im Kopf, die sich aus den Menschen und Orten zusammensetzte, an denen er vorbeigekommen war.” (S.241)

“Die Menschen denen er begegnete, die Orte, die er durchquerte, waren Schritte auf seiner Reise, und jedem einzelnen von ihnen räumte er einen Platz in seinem Herzen ein.” (S.246) Harold kommt mit Menschen in Berührung, so wie er mit seiner Vergangenheit, seinen Glaubenssätzen, seinen Vor-Urteilen und seinen verlorenen Chancen in Zwiesprache tritt. “Manchmal glaubte er, er lebe mehr in der Erinnerung als in der Gegenwart. Er spielte Szenen aus seinem Leben noch einmal ab, als Zuschauer, der im Draußen gefangen blieb. Er sah die Fehler, die Widersprüche, die falschen Entscheidungen, und konnte doch nichts dagegen tun.” (S.193)

Es bleibt nicht ungesehen was dieser alte Herr unternommen hatte. Harold bekommt Gesellschaft – nicht unbedingt stets zum Positiven. “Er wusste nicht, wie es hatte geschehen können, dass die von ihm ins Leben gerufene Unternehmung zum Selbstläufer wurde und ihm nun aus den Händen glitt.” (S.302) Sehr bald wird ihm klar, dass er trotz aller Schmerzen, aller Widrigkeiten, ja selbst wider besseren Wissens seine Reise zu Ende bringen musste, denn: “Er hatte etwas begonnen, was er selber nicht durchschaute, war aber nicht bereit, mittendrin aufzuhören.” (S.17)

Fazit:

“Die Welt bestand aus Menschen, die einen Fuß vor den anderen setzten, und vielleicht kam einem das Leben eines Menschen gewöhnlich vor, nur weil er sehr lange genau das getan hatte: einen Fuß vor den anderen zu setzen. Harold konnte an keinem Fremden mehr vorbeigehen, ohne die Tatsache zu würdigen, dass alle Menschen gleich waren und doch einzigartig und das darin das Dilemma des Menschseins bestand.” (S.191). 

“Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry” von Rachel Joyce war für mich ein bewegendes Leseerlebnis, sind doch die Charaktere weder weit vom eigenen Erleben des Lesers entfernt noch würde man ihr Verhalten als abwegig oder gar unmöglich abtun. Und genau diese Nähe an dem, was wir gemeinhin als Realität bezeichnen bringt während des Lesens Seiten zum klingen, die solche Geschichten im Kopf und Herzen nachhallen lassen.

Zum Buch:

Die dezente, unaufdringliche Farbgebung und der haptisch ansprechende Reliefdruck des Umschlags machen das Buch schon zu einem Hingucker. Der Buchblock ist gut verleimt, die Seiten aus festem und griffigem Bedruckstoff. Typografisch hält sich der Text zurück, lässt die Geschichte wirken und führt den Lesefluss ruhig über die Seiten. Die Druckqualität ist sehr gut, so dass selbst die auf Seite 381 abgebildete Karte der Reiseroute Harolds gestochen scharf abgebildet ist.

Buchdaten:

  • Titel: “Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry”
  • Autorin: Rachel Joyce
  • Übersetzerin: Maria Andreas
  • Umfang: 398 Seiten
  • Verlag: Fischer; 11. Auflage 2015
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-13: 978-3-596-19536-7
  • Größe: 19,0 x 12,5 x 3,4 cm

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